Fall Anschlag

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"Heidrun" und "Andreas Anschlag" zu Prozessbeginn im Sitzungssaal 18 des Stuttgarter Oberlandesgerichts

Der Fall Anschlag ist der größte bekannte Fall von russischer Auslands-Spionage in der jüngeren Geschichte Deutschlands. Die Hauptfiguren in diesem Fall sind die vermeintlichen Eheleute Heidrun und Andreas Anschlag, die als sogenannte Illegale in Deutschland für den russischen Auslandsgeheimdienst SVR spioniert haben. Dabei ist Anschlag nachgewiesen nicht der richtige Name sondern eine Tarnidentität.

Ausbildung in Russland

Der russische Auslandsgeheimdienst SVR bildet in diversen Einrichtungen, die über ganz Russland verteilt sind, sogenannte Illegale aus. Dabei handelt es sich um Agenten, die in das Zielland mit Tarnidentitäten und gefälschten Papieren eingeschleust werden. Wie lange eine solche Ausbildung dauert, ist nicht bekannt. Schätzungen westlicher Geheimdienste gehen von sechs bis zehn Jahren aus.

Zu dem umfangreichen Training gehören sowohl Sprachausbildung als auch technische Ausbildung sowie Rechtskunde des Ziellandes. Hinzu kommen sicherlich auch militärische Anteile wie Schießen, Tarnen oder allgemeine Gefechtsausbildung.

Im vorliegenden Fall begann die Ausbildung der beiden Illegalen schätzungsweise zwischen 1975 und 1977, die später unter den Decknamen "Pit" und "Tina" vom Direktorat "S" des SVR in Moskau geführt wurden.

Erste dokumentierte Spuren

Erste Hinweise auf das spätere Ehepaar Anschlag datieren zurück ins Jahr 1984. In der Steiermark wurden seinerzeit durch zwei österreichische Beamte, beide möglicherweise korrupt, unabhängig voneinander zwei Pässe ausgestellt. Für beide lagen - sehr wahrscheinlich gefälschte - Geburtsurkunden vor, die sie als im Ausland geborene Kinder österreichischer Auswanderer auswiesen. Der erste für Andreas Anschlag, geboren am 6. Dezember 1959 in Alsina, Argentinien. Der zweite ist für die am 4. Dezember 1965 im peruanischen Lima geborene Heidrun Freud. Erstaunlich ist jedoch, dass sich beide Agenten zu dieser Zeit noch in Moskau befanden, um das zur Ausbildung gehörende Studium abschließen. Wohin die Pässe gebracht wurden, ist ebenfalls nicht rekonstruierbar.

Etwa um die Mitte des Jahres 1986 reist der Mann, der auf den Namen Andreas Anschlag hört, nach Mexiko und bereitet seine Einreise nach Deutschland vor. Dazu bezieht er eine Wohnung in der Rio Papaloapan Nummer 13 in Mexiko City. Von dort aus reist er mit den österreichischen Papieren im Juni 1988 nach Deutschland ein und erhält direkt eine Aufenthaltsbescheinigung. Sein erster Wohnsitz wird die Weißwasserstraße 31 in Aachen.

Zur selben Zeit etwa landet Heidrun Freud, die spätere Ehefrau Anschlag, in ihrem fiktiven Geburtsort, der peruanischen Hauptstadt Lima, und bereitet sich auf die Übersiedlung nach Deutschland, damals noch Westdeutschland, vor. Sie folgt ihrem Partner um die Jahreswende 1989/1990, während die Mauer in Berlin bereits offen ist.

Aufbau der Tarnung

Zur Tarnung der beiden gehört, dass sie wohl schon lange miteinander bekannt und offenbar bereits verlobt sind. So wundert sich niemand, dass die beiden am 6. September 1990 in Altausee im Salzkammergut vor den Standesbeamten und den Altar treten. Es verwundert ebenso niemanden, dass beide Deutsch nur mit Akzent sprechen, da beide in Lateinamerika aufgewachsen sind.

Durch die Heirat erlangt Heidrun Anschlag, geborene Freud, nun legal einen österreichischen Pass. Beide kehren nach Deutschland zurück und beginnen ein auf den ersten Blick unscheinbares Familienleben. Andreas Anschlag, inzwischen laut Papieren Anfang 30, beginnt zum Wintersemester 1990/91 ein Maschinenbaustudium an der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule in Aachen. Sie mimt die brave Ehefrau, bringt eine Tochter zur Welt und ist schnell in ihrem sozialen Umfeld beliebt. Ehemalige Nachbarn, Studienkollegen und Freunde beschreiben die Anschlags als liebenswerte und sehr herzliche Menschen.

Für beide sind die Umbrüche in der Welt jedoch gefährlich: Die DDR als Trabantenstaat der Sowjetunion ist im Begriff der Bundesrepublik Deutschland beizutreten, die Sowjetunion selbst wird zerlegt und der KGB, ursprünglicher Auftraggeber der Anschlags, wird durch Boris Jelzin aufgelöst und die nachrichtendienstlichen Zuständigkeiten in Russland werden komplett neu geregelt. Die vorhandenen Netzwerke bleiben jedoch bestehen und die Mission der Anschlags ist zu keiner Zeit in Gefahr. Aus dem KGB wird der SVR und die Führungskader in Moskau geben unter neuem Namen Weisung, wie bisher weiter zu machen. Berichte und Meldungen der Anschlags werden weiterhin entgegen genommen und, wenn auch durch die Umstrukturierung der Geheimdienste in Russland verzögert, ausgewertet.

Andreas Anschlag wird zum Dauerstudenten, erlangt seinen Diplom-Ingenieur für Spritzgusstechnik erst am 10. März 1998. Es folgt die erste Anstellung beim Autozulieferer MANNESMANN BOGE GmbH. Sein Einstiegsgehalt beläuft sich auf etwa 5500,- DM brutto. Das Unternehmen betraut ihn mit der Kontrolle von Produktionsstätten in Brasilien, Mexiko und der Slowakei. Diese vielen Reisen sind ganz im Sinne der Führungsoffiziere in Moskau.

Umzug nach Meckenheim

Unter dem Vorwand näher an seinen Arbeitsplatz zu ziehen verlässt Familie Anschlag Aachen und zieht nach Meckenheim bei Bonn. Doch nicht nur der Weg zur Arbeit wird für Andreas Anschlag kürzer, auch der Meldeweg zu einem Verbindungsoffizier in der russischen Botschaft in Bonn dürfte hier maßgeblich eine Rolle gespielt haben.

Unter den im Zuge der Ermittlungen gegen Familie Anschlag sichergestellten Dokumenten finden sich auch Landkarten aus dem Großraum Bonn, in die viele Markierungen gezeichnet wurden. An diesen Stellen befanden sich die Toten Briefkästen des Agentenpaares: einzeln stehende Bäume, Holzkreuze, markante Steine, Erdlöcher. Geleert wurden diese Übergabepunkte von Mitarbeitern der russischen Botschaft. Heute ist bekannt, dass das Diplomatische Korps Russlands überwiegend auf der Gehaltsliste des SVR steht und nicht auf der des Außenministeriums.

Kommunikation

Ihre Befehle, Aufträge und Anweisungen erhalten die Anschlags per Kurzwelle – meistens über die Morsesignale von M12, wohl aber auch über XPA bzw. XPA2, wie sich anhand der gefundenen Technik im Haus der Anschlags rekonstruieren ließ. Ob auch E07, oder seinerzeit noch G07, zu den Führungsmitteln aus Moskau zählte, kann heute nur noch vermutet werden. Bekannt ist nur, dass die Nachrichten für Familie Anschlag immer dienstags um 06:00 Uhr übermittelt wurden. Zumindest galt dies in den Anfangsjahren, später gab es möglicherweise auch andere Programmzeiten.

Für die Entschlüsselung der Nachrichten von XPA1 bzw. XPA2 und möglicherweise auch M12 wurde von Heidrun Anschlag die sogenannte Kelchblatt-Software eingesetzt. Diese wandelt die Tonsignale von XPA1/XPA2 in fünfstellige Zahlengruppen, ähnlich dem Programm Rivet von Ian Wraith um. In einem zweiten Schritt werden die Zahlengruppen dann durch Kelchblatt in Klartext umgewandelt.

Damit ließen sich die Nachrichten in Codeform umwandeln, die dann mit Hilfe eines kompakten Satellitensenders direkt über einen russischen Satelliten abgeschickt werden konnten.

In den ersten Jahren gelangten die Antworten, Meldungen und Berichte aber noch per Totem Briefkasten nach Moskau. Um die Jahrtausendwende wurde ein kompaktes Satellitenfunksystem an die Anschlags ausgegeben. Zum verschlüsseln der Antwort nutzten die Anschlags das Programm Parabola (Software), mit dessen Hilfe die Nachrichten in Code umgewandelt und direkt an das Satelliten-Funksystem übergeben werden konnten. Ab etwa 2010, also kurz vor ihrer Enttarnung, wurde auch die Videoplattform YouTube für die verdeckte Kommunikation mit der Zentrale in Moskau verwendet - in erster Linie für Kurznachrichten. Diese war bis Ende 2014 noch auf YouTube nachvollziehbar: Wer in der Suchleiste den Begriff „Alpenkuh1“ eingab, fand so das Nutzerprofil von Familie Anschlag. Moskau antwortete mit dem Nicknamen „Cristianofootballer“. Beide Accounts wurden etwa Ende Januar 2015 gelöscht.

Entwicklung ab der Jahrtausendwende

Der Wechsel der Bundesregierung von Bonn nach Berlin brachte auch für die Anschlags Veränderungen mit sich. Andreas wechselt den Arbeitgeber und die Familie zieht nach Landau in der Pfalz, unweit der französischen Grenze. Sein neuer Arbeitgeber, SAI AUTOMOTIVE SAL, schickt Andreas ebenfalls wieder sehr oft ins Ausland: Tschechische Republik, die USA, Spanien, Portugal, Brasilien. Dabei betreut er Projekte für die Firmen Daimler Chrysler, General Motors, VW und BMW. Der Diplomingenieur leistet gute Arbeit, seine Kollegen beschreiben ihn als freundlich, zuverlässig und immer hilfsbereit.

In den Folgejahren gelingt den Anschlags, allen voran Andreas, die Verbindungsaufnahme zu einem Beamten des niederländischen Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten: Raymond Valentino Poeteray, verheiratet, zwei Kinder, spielsüchtig, hoch verschuldet. Offenbar aus diesem Grund von einem weiteren SVR-Agenten in den Niederlanden unter der Deckbezeichnung „BR“ an die Anschlags getippt, begannen die Eheleute Poeteray als Quelle abzuschöpfen.

Wie die erste Kontaktaufnahme zu Poeteray ablief, ist geheim. Fest steht aber, dass sich Poeteray und Andreas Anschlag zwischen 2002 und 2012 etwa 20 bis 30 Mal getroffen haben. Diese Treffen fanden hauptsächlich in Amsterdam und Den Haag statt, einige Male auch im deutsch-niederländischen Grenzgebiet bei Emmerich. Dabei händigte Poeteray heikles Material an Andreas Anschlag aus: Dokumente über die Raketenabwehr der NATO und die Strukturreform des Bündnisses sowie Daten über die militärischen Strukturen bei Operationen wie ISAF oder KFOR. Ab und zu brachte Poeteray auch geheime EU-Berichte aus Brüssel mit, zum Beispiel über die Polizeimission EULEX im Kosovo. Übergeben werden USB-Sticks, CDs, SD-Karten – bespielt mit Dokumenten, Bildern und Präsentationen aus dem niederländischen Außenministerium. Als Gegenleistung erhält Poeteray über die sogenannten „Instrukteure“ Heidrun und Andreas Anschlag mehr als 70.000 Euro aus Moskau.

Moskau ist mit den Anschlags sehr zufrieden, denn es werden nicht nur hochwertige Informationen geliefert. Andreas Anschlag entwickelt zusätzlich einen gesellschaftspolitischen Ehrgeiz und nimmt in seiner Freizeit an Fachtagungen und Vorträgen der Konrad-Adenauer-Stiftung, der Clausewitz-Gesellschaft oder der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik teil. Im weiteren Verlauf wird der Diplom-Ingenieur sogar Mitglied der elitären Deutschen Atlantischen Gesellschaft und der angesehenen Europa-Union. Die teilweise hohen Mitgliedsbeiträge werden von Moskau als sogenannte „Operative Ausgaben“ gezahlt. Auch von dort wird durch die Anschlags geliefert: Andreas schreibt auf Konferenzen und Tagungen eifrig mit und „tippt“ der Moskauer Zentrale Kandidaten zum Anwerben. Dabei ist der russische Agent nicht kleinlich und „empfiehlt“ einen ehemaligen Chef des MAD im Rang eines Brigadegenerals, einen Regierungsdirektor des BMVg sowie einen Regierungsdirektor a.D. der Bundeswehrverwaltung. Moskau ist begeistert und zahlt reichliche Boni.

Vor dem Zugriff

Ewiges Tal 28, Marburg Michelbach: Das Haus der Familie "Anschlag"[1]

Im Oktober 2010 ziehen die Anschlags ein weiteres Mal um – nach Marburg, Ortsteil Michelbach. Sie beziehen dort ein Einfamilienhaus, wo Andreas aber nur an den Wochenenden gesehen wird. Denn er arbeitet inzwischen bei der VÖTSCH Industrietechnik GmbH im schwäbischen Balingen, etwa 70 km südlich von Stuttgart. Dort lebt er in einer vom neuen Arbeitgeber bezahlten oder bereitgestellten Zweitwohnung.

Den Anschlags gelingt es, nach außen hin ein idyllisches Familienleben zu transportieren, auch wenn selbiges nur am Wochenende stattfinden kann. Man fügt sich in die Nachbarschaft ein, knüpft umfangreiche soziale Kontakte und Heidrun Anschlag beginnt ein Studium der Politikwissenschaften an der Fernuniversität Hagen.

Anfang August 2011 gehen beim Bundesamt für Verfassungsschutz vermehrt Hinweise aus England, Frankreich und Spanien ein, die auf russische Agententätigkeiten in Deutschland hindeuten. Untermauert werden diese Hinweise nur wenige Tage später durch Berichte aus der Slowakei und der Tschechischen Republik. Nur ein paar Tage später erreichte eine Meldung der CIA die deutsche Spionageabwehr beim BfV. Dem US-Geheimdienst sei es mithilfe einer Software der NSA gelungen, Teile der Kommunikation zwischen einer Stadt in Deutschland (Marburg) und Moskau zu knacken. Das BfV nimmt umgehend weitere Ermittlungen auf, das Ehepaar Anschlag wird diskret unter Vollbeobachtung genommen: Beschattung, Anzapfen des Telefons, Überprüfung der Bankkonten. In der Zentrale des SVR in Moskau hatte man aber offenbar Wind von den Ermittlungen der deutschen Spionageabwehr und einer möglichen Enttarnung des Ehepaars bekommen.

Am 21. August 2011 treffen die Anschlags einen Kontaktmann oder Führungsoffizier, Deckname „Leonid“, in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Dieser warnt sie vor der möglichen Enttarnung und bespricht alternative Verwendungsmöglichkeiten. Andreas Anschlag erhält das Angebot in der Moskauer Zentrale des SVR neue „Illegale“ auszubilden, Heidrun bietet man einen Dozentenplatz an einer der weiteren Ausbildungseinrichtungen des SVR an. Es werden abhörsichere Telefone übergeben und Familie Anschlag bekommt die Anweisung sich im Fall der Fälle unter den Decknamen SASCHA und OLJIA ROST beim russischen Generalkonsulat in Bonn vorzustellen.

Wieder zurück in Marburg erhalten die Anschlags detaillierte Anweisungen aus Moskau, welche Technik und welche Software unter allen Umständen so zu vernichten sind, dass sie dem „Gegner“ keine Beweise liefern können. Funkgeräte und Computer sind getrennt zu zerkleinern und in tiefen Gewässern zu versenken. Wenn das nicht möglich ist, sollen die Reste an schwer zugänglichen und räumlich weit auseinanderliegenden Orten versteckt werden.

Vom 29. September bis 2. Oktober 2011 findet in Rom ein weiteres Treffen mit dem Führungsoffizier statt, nach außen hin getarnt als romantisches verlängertes Wochenende. Allerdings bleibt für Sightseeing keine Zeit, denn alles deutet auf einen schnellen Abbruch der Mission der Anschlags hin. Um jedoch die Moral des Ehepaares zu heben, werden beide befördert, was sich durch ein kräftiges Plus auf dem jeweiligen Gehaltsstreifen bemerkbar machen soll.

Andreas Anschlag kündigt seinen Job in Balingen zum Ablauf des Jahres 2011. Dennoch drängt Moskau zur Eile, wohl in der Hoffnung, dass Andreas und Heidrun das Land unenttarnt verlassen können. Wegen der von Moskau verordneten Dringlichkeit spricht Andreas Anschlag nochmals mit seinem Arbeitgeber. Er behauptet, seine Ehe drohe ob der Wochenendbeziehung zu zerbrechen. Es kommt zu einem Aufhebungsvertrag zwischen Andreas Anschlag und der VÖTZSCH GmbH zum 31. Oktober 2011. Die Wohnung in Balingen und das Haus in Marburg werden gekündigt, als Grund wird eine Versetzung nach Bulgarien angegeben. All das entgeht dem Verfassungsschutz jedoch nicht.

Der Zugriff

Am Morgen des 18. Oktobers 2011 um 6 Uhr stürmen schwarz uniformierte Beamte der GSG9 das Einfamilienhaus unter der Adresse Ewiges Tal 28 in Marburg Michelbach. Die Einsatzkräfte erwischen Heidrun Anschlag am Kurzwellenempfänger. Sie kann allerdings den Netzstecker ziehen, wodurch der im Dechiffrieren begriffenen Funkspruch aus Moskau unwiederbringlich gelöscht wird. Nach Recherchen war dies eine Sendung von M12 auf der Frequenz 6772,0 kHz mit der ID 876. Zur gleichen Zeit wird Heidruns Ehemann in der Zweitwohnung in Balingen festgenommen.

Bei der Durchsuchung des Hauses finden die Beamten in unterschiedlichen Verstecken 33.000 Schweizer Franken und weitere Währungen im Gesamtwert von 35.000 Euro.

Anklage und Prozess

Die Anschlags im Stuttgarter OLG

Nur einen Tag nach der Verhaftung der Anschlags erließ der Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof Haftbefehl gegen das Agentenpaar. Die beiden saßen getrennt ein - Andreas im südhessischen Weiterstadt, Heidrun in Frankfurt. Das BKA nahm die Ermittlungen auf, es wurden Rechtshilfegesuche in Österreich, den Niederlanden, Venezuela, Argentinien, Mexiko und zehn weiteren Ländern gestellt. Durch die sichergestellten Beweismittel – Dokumente, Computer, sogar ein One-Time-Pad soll den Ermittlern in die Hände gefallen sein – konnten durch die Aufklärung des BND in der Vergangenheit aufgefangene Funksprüche dechiffriert, konspirative Treffen und komplexe Geldtransfers offengelegt werden. So kann den Anschlags am Ende ein Gesamtvermögen von 700.000 Euro nachgewiesen werden, wenn auch verteilt auf Banken in Russland. Wie inzwischen bekannt geworden ist, konnten die Anschlags nach ihrer Rückkehr in die Heimat frei darüber verfügen. Aus Sicht der deutschen Justiz handelt es sich bei dem Geld aber um rechtswidrig erworbenen Agentenlohn und es wurden etwa 500.000 Euro von den Anschlags zurückgefordert.

Am 24. März 2012 wurde Raymond Poeteray am Flughafen Amsterdam – Schiphol festgenommen. Die Sicherheitskräfte des Königreichs griffen ihn auf, als er über Wien nach Bangkok reisen wollte. Die Verhaftung ging auf Ermittlungsergebnisse aus Deutschland zurück. Im Gepäck hatte er bei seiner Gefangennahme mehrere USB-Sticks, versteckt in einem Brillenetui, gefüllt mit sensiblen Daten aus dem niederländischen Außenministerium. In seiner Wohnung fanden niederländische Polizeibeamte 450 weitere hochbrisante Dokumente und eine Waffe.

Schon im April 2013 wurde das Urteil gegen Raymond Poeterey in Den Haag verkündet. Wegen Spionage für Russland verurteilte der Strafsenat den 61-Järigen zu zwölf Jahren Gefängnis und blieb damit unter der Forderung der Staatsanwaltschft, die auf 15 Jahre plädiert hatte. Das Gericht reduzierte diese Forderung mit der Begründung, der Angeklagte sei bereits 61 Jahre alt.

Zum Zeitpunkt von Poeterays Festnahme liefen bereits streng geheime Gespräche zwischen Berlin und Moskau. Es gilt als sicher, dass sowohl Angela Merkel als auch Vladimir Putin über alle Details der Verhandlungen in Kenntnis gesetzt waren. Hochrangige Quellen aus dem Umfeld der Regierung berichteten, man könne auf eine Anklage gegen das Agentenpaar verzichten und diese stattdessen gegen zwei deutsche Agenten russischer Abstammung, die in Russland inhaftiert waren, eintauschen. Doch der Kreml ließ den Deal durch Hinhaltetaktik platzen, denn ein Prozess gegen die Anschlags bedeutete für den SVR großen Erkenntnisgewinn: was haben deutsche Ermittler über den SVR in Erfahrung bringen können? Welche Methoden und Techniken kamen auf deutscher Seite zum Einsatz? Sind andere Agenten in Deutschland bzw. dem jeweiligen Einsatzland gefährdet? Ein Agentenprozess in einem Rechtsstaat bietet dem SVR immer viele Möglichkeiten. Denn auch nach der Enttarnung von Spionen geht die Spionage weiter.

Die beiden Angeklagten schwiegen während des gesamten Verfahrens, ihr Anwalt gab fadenscheinige Erklärungen ab. Immerhin konnte so viel ans Licht der Öffentlichkeit gebracht werden: Wegen ihrer Rolle als Hausfrau kümmerte sich Heidrun Anschlag hinter den verschlossenen Türen des jeweiligen Domizils um die Kommunikation mit Moskau und die notwendige Logistik. Ihr Mann sei, so Heidrun Anschlag, für das konspirative und operative Geschehen zuständig gewesen.

Angeklagte Heidrun (l.) und Andreas (3. v. r.) Anschlag mit ihren Verteidigern

Unklar ist bis heute, wie der SVR von der bevorstehenden Enttarnung des Agentenpaares Kenntnis erlangt hat. Vermutlich aber hängt dies mit der Verhaftung von zehn russischen Spionen in den USA durch das FBI zusammen. Unter anderem wurde damals die 28 jährige Anna Wassiljewna Chapman hochgenommen, die später wegen ihrer Attraktivität als „Agentin 90/60/90“ oder „Agentin 00Sex“ bekannt wurde und in Putins Überwachungsstaat als Kultfigur verehrt wird. Offenbar fürchtete Moskau, dass mit der Verhaftung in den USA Details ermittelt werden konnten, die als Spuren zu den Anschlags führen mussten.

Im Juli 2013 wurde das Urteil gegen das Ehepaar Anschlag, deren echte Namen bis dahin immer noch unbekannt waren, verkündet. Andreas Anschlag sollte eine Haftstrafe von sechseinhalb, seine Frau Heidrun von fünfeinhalb Jahren verbüßen. Kurz nach der Urteilsverkündung hieß es jedoch aus Moskau, man wolle die beiden schnellstmöglich repatriieren. Das russische Blatt KOMMERSANT zitierte einen Geheimdienstmitarbeiter mit den Worten: „Wir werden die unseren da rausholen“. Weiter schrieb das vom Kreml kontrollierte Blatt, der Austausch mit in Russland inhaftierten Spionen könne jederzeit stattfinden. Die deutschen Behörden wiegelten jedoch ab. „Das Verfahren ist abgeschlossen und der Rechtsvollzug im Gange. Ein Austausch steht nicht zur Debatte, “ sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amtes in Berlin nach der Urteilsverkündung.

Abschiebung

Am 22. November 2014 durfte Heidrun Anschlag die Bundesrepublik gen Moskau verlassen. Das war möglich, da die Agentin die Hälfte ihrer Strafe, einschließlich ihrer Untersuchungshaft, abgesessen und der Generalbundesanwalt unter Anwendung des Paragrafen 456a der Strafprozessordnung die Ausweisung von Heidrun Anschlag eingeleitet hatte. Andreas Anschlag blieb zunächst aber noch in Haft. Um tatsächlich freizukommen, musste Heidrun Anschlag jedoch 500.000 Euro zahlen, der bereits erwähnte Betrag als Gegenwert für den von Moskau gezahlten Agentenlohn. Es gilt als sicher, dass das Geld direkt aus dem Kreml angewiesen wurde. Inzwischen ist auch Andreas Anschlag nach Russland zurückgekehrt. Auch bei ihm wurde seitens des Generalbundesanwalts die Abschiebung nach verbüßen der Hälfte der ausgesprochenen Haftstrafe eingeleitet.

Weitere Rezeption

Am vorläufigen Ende der ganzen Geschichte sind noch einige Fragen unbeantwortet. Die wahren Namen von Heidrun und Andreas Anschlag sind nach wie vor nicht bekannt. Auch ist unbekannt, ob die eingangs genannten Geburtsdaten der Wahrheit entsprechen. Und auch die Frage nach der möglichen Wirtschaftsspionage durch Andreas Anschlag ist nicht geklärt. Zwar war Andreas nie bei einem Unternehmen der Rüstungs- oder Hightechindustrie angestellt, doch Moskau dürfte, zur Stärkung der eigenen Wirtschaft, gleichwohl an moderner Kfz-Technologie interessiert (gewesen) sein. Es ist daher nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen, dass Andreas Anschlag keine Technologie-Informationen, möglicherweise auch nur als Beifang, nach Moskau geliefert hat.

Schlussendlich bleibt noch die gemeinsame Tochter. Sie ist von der Öffentlichkeit größtenteils abgeschirmt – ihr derzeitiger Aufenthaltsort ist unbekannt. Der Umstand, dass die leiblichen Eltern unter falschem Namen in Deutschland lebten und sie ohne Großeltern, Onkel oder Cousine aufgewachsen ist, muss im Vergleich zu den anderen Kindern in der Schule schwer auf ihr lasten. Den Ermittlungsbehörden gegenüber erklärte sie, nichts vom Doppelleben ihrer Eltern gewusst zu haben. Und im Gegensatz zu ihnen wolle sie in Deutschland bleiben.

Während des Prozesses zeigten sowohl Andreas wie auch Heidrun Anschlag große Emotionalität, wenn es um die gemeinsame Tochter ging. Bei der Verlesung der Geburtsurkunde der Tochter am zweiten Verhandlungstag bricht Heidrun Anschlag in Tränen aus. Ihr Mann soll bei der Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe gesagt haben: „Wichtig ist mir nur, dass meinen Tochter nicht dadurch gebrochen wird, dass ich in Haft genommen werde.“

Einzelnachweise

Quellen

Zeitung DIE WELT

Zeitung DIE ZEIT

Zeitung FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

Zeitung DER TAGESSPIEGEL

Magazin FOCUS

Magazin STERN

Magazin DER SPIEGEL

Sonstige Pressequellen